Schlagworte:
verhaltensbedingte Kündigung, Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung über das Internet, Fernuntersuchung mittels Fragebogen, Rücksichtnahmepflicht, wahrheitswidrige Behauptung eines ärztlichen Kontakts zur Feststellung der Arbeitsunfähigkeit, gegen Gebühr erworbene Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung, Erschleichen einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung, Entbehrlichkeit einer Abmahnung
Leitsätze:
Einzelfallentscheidung im Zusammenhang mit einer im Internet gegen Gebühr erworbenen Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung
hier: Wirksamkeit der außerordentlichen Kündigung bejaht
Tatbestand
Die Parteien streiten über die Wirksamkeit einer fristlosen, hilfsweise ordentlichen Kündigung.
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Der Kläger war bei der Beklagten seit dem Jahr 2018 zunächst als Trainee und sodann als IT-Consultant mit einem durchschnittlichen Bruttomonatsentgelt in Höhe 5.450,00 € beschäftigt. Im Betrieb der Beklagten ist kein Betriebsrat gebildet.
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Der Kläger meldete sich bei der Beklagten für den Zeitraum vom 19. August bis zum 23. August 2024 als arbeitsunfähig erkrankt. Auf der Website „www.XXX.com“ erwarb er kostenpflichtig eine Bescheinigung über eine Arbeitsunfähigkeit. Er füllte über die Website einen Fragebogen mit vorgegebenen Antwortmöglichkeiten aus. Abgefragt wurden Symptome, Fieber, ausgeübte Tätigkeit, Intensität der Anstrengung der Arbeit und Fragen zu einer verzögerten Genesung. Der Kläger gab seine Tätigkeit als Informatiker sowie Symptome von Unwohlsein, trockener Husten, Gliederweh und Rückenweh an. Die Anstrengung wurde mit mittel bezeichnet. Der Kläger nahm folgende Medikamente ein: Keltican, Ibuflam 800 mg, Lumbagil, Prospan, Aspirin Complex. Ein Kontakt mit einem Arzt fand im Zusammenhang mit der Erstellung der Bescheinigung der Arbeitsunfähigkeit nicht statt; weder persönlich, noch telefonisch, noch digital.
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Einige Stunden nach Ausfüllen des Fragebogens erhielt der Kläger eine Bescheinigung über eine Arbeitsunfähigkeit übersandt. Diese Bescheinigung entspricht optisch weitestgehend dem Vordruck, der vor Einführung der elektronischen Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung als Muster 1b (1.2018) als Ausfertigung zur Vorlage beim Arbeitgeber durch die Kassenärztliche Bundesvereinigung für die Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen in Papierform vorgesehen war. Die auf den Namen des Klägers und unter Nennung von Adresse, Geburtsdatum und gesetzlicher Krankenkasse ausgestellte Bescheinigung vom 21. August 2024 enthält die Angaben, dass es sich um eine Erstbescheinigung handele, der Kläger seit dem 19. August 2024 arbeitsunfähig sei und weist unter dem Feld „Arzt-Nr.“ die Bezeichnung „Privatarzt“ aus. Ferner findet sich folgende Angabe:
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„voraussichtlich arbeitsunfähig aufgrund Fernuntersuchung nur mittels Fragebogen bis 23.08.2024, festgestellt am 21.08.2024“.
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In dem Feld „Vertragsarztstempel / Unterschrift des Arztes“ findet sich die folgende Angabe:
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„A
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Privatarzt per Telemedizin
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WhatsApp: +49(…)
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E-Mail: (…)“.
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Die Bescheinigung weist unten rechts die Bezeichnung „Muster 1b (1.2018)“ aus.
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Wegen des gesamten Inhalts und des optischen Erscheinungsbilds der Bescheinigung über eine Arbeitsunfähigkeit vom 21. August 2024 wird auf Blatt 47 der arbeitsgerichtlichen Akte Bezug genommen.
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Auf der Website, auf der der Kläger die Bescheinigung kostenpflichtig erwarb, wurde ein „AU-Schein ohne Gespräch“ und ein „AU-Schein mit Gespräch“ angeboten, wobei die Bescheinigung mit Gespräch mit höheren Kosten verbunden ist als eine Bescheinigung ohne Gespräch. Hinter der Auswahlmöglichkeit eines „AU-Scheins ohne Gespräch“ findet sich ein Stern, der auf einen Hinweistext verweist. Dieser Hinweis auf der Website lautete:
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„*Krankschreibung mit Arztgespräch gültig mit Geld-zurück-Garantie, falls Deine AU nicht sofort akzeptiert wird. Wir zahlen Dir sogar 100% Deines Lohns, falls er verweigert wird. Beim AU-Schein OHNE Arztgespräch solltest Du Deinen Arbeitgeber sofort um Akzeptanz der AU bitten, insb. wenn er misstrauisch ist. Schreib´ ihm z.B.: „Hier ist meine AU als PDF. Ist die OK so?“. Falls er sie nicht zeitnah akzeptiert, storniere kostenlos und hol´ Dir lieber die AU MIT Gespräch bis zu 3 Tage rückwirkend von unseren online Ärzten mit deutscher Zulassung oder von einem Praxisarzt.
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Denn unsere AU OHNE Arztgespräch hat im Streitfall vor Gericht geringeren Beweiswert als unsere AU MIT Arztgespräch. Falls Dein Chef dann Indizien gegen Dich hat (z.B. Partyfoto auf Instagram), bräuchtest Du weitere Beweise (z.B. Freund als Zeuge). Die zugelassenen Ärzte für die gültige AU OHNE Arztgespräch sind zudem international und nur online tätig, so dass sie weder Praxissitz noch Zulassung in Deinem Land benötigen. Das könnte misstrauische Arbeitgeber bei Nachforschungen irritieren, da diese Ärzte nur im Ausland und somit nicht bei einer deutschen Ärztekammer registriert sind. Auf der AU steht daher unter dem Arztnamen statt der Adresse in Pakistan nur: „Privatarzt per Telemedizin“ sowie dessen deutsche WhatsApp-Nr. und deutsche Email Adresse.“
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Diese Bescheinigung vom 21. August 2024 reichte der Kläger bei der Beklagten zum Nachweis seiner Arbeitsunfähigkeit ein, indem er sie in das unternehmensinterne System hoch lud. Hierüber erhielt er die Systemmeldung „approved“ als Eingangsbestätigung. Der Kläger nahm am 26. August 2024 seine Tätigkeit bei der Beklagten wieder auf. Die Beklagte zahlte an den Kläger Entgeltfortzahlung für den bescheinigten Zeitraum.
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Am 13. September 2024 informierte der in der Abteilung Abwesenheiten tätige Mitarbeiter der Beklagten B die Mitarbeiterin der Personalabteilung C per E-Mail darüber, dass es sich bei der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung des Klägers gegebenenfalls um eine Fälschung handeln könnte. Die Abteilung Abwesenheiten hatte zuvor geprüft, ob es sich um einen Arzt handelte und hatte erfolglos versucht, über den elektronischen Datenaustausch mit der Krankenkasse etwaige elektronische Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen abzurufen. Diese lagen nicht vor. Nach interner Ermittlung des Sachverhalts informierte die Mitarbeiterin C den Vorgesetzten des Klägers D, der seinerseits am 17. September 2024 in einem persönlichen Gespräch das zuständige, kündigungsberechtigte Vorstandsmitglied der Beklagten E informierte.
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Ebenfalls am 17. September 2024 sprach der Vorgesetzte des Klägers F mit dem Kläger über die Möglichkeit, dass er anstelle einer Rückzahlung der Entgeltfortzahlung für den Zeitraum vom 19. August bis zum 23. August 2024 Urlaubsansprüche einbringe.
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Mit Schreiben vom 18. September 2024 kündigte die Beklagte das Arbeitsverhältnis mit dem Kläger außerordentlich fristlos, hilfsweise ordentlich zum nächstmöglichen Termin. Wegen des konkreten Inhalts des Kündigungsschreibens wird auf Blatt 92 der arbeitsgerichtlichen Akte Bezug genommen. Das Kündigungsschreiben ging dem Kläger am 23. September 2024 zu.
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Mit seiner am 26. September 2024 beim Arbeitsgericht eingegangenen Klage wendet sich der Kläger gegen die Wirksamkeit der außerordentlichen, hilfsweisen ordentlichen Kündigung der Beklagten.
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Er hat behauptet, er sei tatsächlich arbeitsunfähig erkrankt gewesen. Er habe sich im Internet über die Möglichkeiten einer Krankschreibung informiert und auch einen Internetanbieter ausgeschlossen, der im unseriös vorgekommen sei. Er habe auf die Richtigkeit der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung vertraut. Er hat die Ansicht vertreten, es sei zwischen den Parteien eine Vereinbarung getroffen worden, die der Wirksamkeit der streitgegenständlichen Kündigung entgegenstünde. Hierzu hat der Kläger behauptet, in einem persönlichen Gespräch mit seinem Vorgesetzten F sei ihm mitgeteilt worden, dass die Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung nicht als ausreichend betrachtet werde und eine Bestätigung durch einen Hausarzt erforderlich sei. Auf dem Weg zum Arzt sei er sodann seitens der Beklagten angerufen worden, dass es nicht mehr notwendig sei, da eine abweichende Lösung gefunden sei. Er sei dann umgekehrt und der Vorgesetzte F habe mit ihm vereinbart, den Zeitraum der Arbeitsunfähigkeit als Urlaubstage zu verbuchen, ohne dass eine weitere Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung benötigt werde. In diesem Gespräch sei er darauf hingewiesen worden, dass durch diese „Umbuchung“ der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung in Urlaub keine weiteren Schritte hinsichtlich der Arbeitsunfähigkeit mehr erforderlich seien. Er hat ferner die Ansicht vertreten, die Kündigung der Beklagten sei unwirksam, da er weder eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung gefälscht, noch in betrügerischer Absicht gehandelt habe. Im Übrigen sei die Kündigungserklärungsfrist des § 626 Abs. 2 BGB nicht eingehalten, da die Kündigung über einen Monat nach Beginn seiner Arbeitsunfähigkeit erfolgt sei.
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Der Kläger hat unter Rücknahme des allgemeinen Feststellungsantrags beantragt,
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festzustellen, dass das Arbeitsverhältnis der Parteien durch die Kündigung der Beklagten vom 18. September 2024 weder außerordentlich noch ordentlich beendet worden ist.
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Die Beklagte hat beantragt,
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die Klage abzuweisen.
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Sie hat die Auffassung vertreten, die streitgegenständliche Kündigung habe das Arbeitsverhältnis fristlos, jedenfalls ordentlich beendet, da der Kläger versucht habe, sich durch die Vorlage der unechten Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung Entgeltfortzahlung zu erschleichen. Er habe ein unechtes medizinisches Testat vorgelegt, das nicht den Vorgaben der einschlägigen Arbeitsunfähigkeitsrichtlinie entspreche. Aufgrund der Art und Weise der Darstellung und der Vorgehensweise auf der Website des Anbieters habe der Kläger dies auch erkennen müssen. Eine Abmahnung vor Ausspruch sei angesichts der Schwere der Pflichtverstöße nicht erforderlich gewesen.
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Mit Urteil vom 8. Januar 2025 hat das Arbeitsgericht der Klage stattgegeben, im Wesentlichen mit folgender Begründung: Der nach § 626 Abs. 1 BGB erforderliche wichtige Grund liege nicht vor. Zugunsten der Beklagten könne zwar angenommen werden, dass das Verhalten des Klägers einen wichtigen Grund „an sich“ darstelle, da er durch sein Verhalten gegen seine arbeitsvertragliche Nebenpflicht verstoßen habe, einen ordnungsgemäßen und korrekten Nachweis seiner Arbeitsunfähigkeit vorzulegen. Die von dem Kläger vorgelegte Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung wirke nach dem äußeren Erscheinungsbild zunächst als übliche, ordnungsgemäß ausgestellte Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung, was jedoch in mehrfacher Hinsicht nicht den Tatsachen entspreche. Dies lasse sich erst auf den zweiten Blick erkennen. Der die Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung ausstellende Arzt sei kein Vertragsarzt im Sinne der Richtlinien, er verfüge über keine Kassenzulassung und es sei keine ärztliche Untersuchung erfolgt. Die Beklagte sei in die Irre geführt worden. Die Inhalte der Internetseite führe jedem Interessenten der dort angebotenen Dienstleistung unzweifelhaft vor Augen, dass von einer ordnungsgemäß ausgestellten Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung nicht ausgegangen werden könne. Jedoch habe die Beklagte als milderes Mittel eine Abmahnung aussprechen müssen. Die Kündigung sei auch nicht wegen des Vorwurfs des Erschleichens von Entgeltfortzahlung durch eine vorgetäuschte Arbeitsunfähigkeit gerechtfertigt. Der Beweiswert der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung sei zwar erschüttert. Es sei jedoch zu berücksichtigen, dass diese Erschütterung des Beweiswerts nicht durch ein aktives Verhalten des Klägers während des bescheinigten Arbeitsunfähigkeitszeitraums herbeigeführt worden sei, sondern auf Verstößen gegen die Arbeitsunfähigkeitsrichtlinie beruhe. Unter Berücksichtigung der Darstellungen des Klägers seien keine Anhaltspunkte dafür ersichtlich, dass dieser tatsächlich nicht arbeitsunfähig erkrankt gewesen sei. Die Beklagte habe keine hinreichenden Tatsachen vorgetragen, um dies zu entkräften. Unter Berücksichtigung dieser Gesichtspunkte sei auch die hilfsweise ordentliche Kündigung unwirksam.
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Gegen das der Beklagten am 30. Januar 2025 zugestellte Urteil richtet sich deren am 11. Februar 2025 beim Landesarbeitsgericht eingegangene Berufung, die sie am 11. März 2025 unter Wiederholung und Vertiefung ihres erstinstanzlichen Vortrags im Wesentlichen wie folgt begründet: Der Kläger habe sich die Bescheinigung gezielt verschafft in der Absicht, sie über den Beweiswert der vorgelegten Bescheinigung zu täuschen. Das Arbeitsgericht habe zu Unrecht nachträgliche Umstände zur Beurteilung der Wirksamkeit der Kündigung herangezogen. Es liege eine schwere Pflichtverletzung vor, deren auch nur einmalige Hinnahme unzumutbar sei. Ob der Kläger tatsächlich arbeitsunfähig erkrankt gewesen sei, spiele für die kündigungsrechtliche Bewertung seines Verhaltens keine entscheidende Rolle. Maßgeblich sei, dass allein schon die Beschaffung und Vorlage einer Bescheinigung, die fälschlich eine ärztliche Untersuchung suggeriere, eine Täuschungshandlung darstelle, die den Arbeitgeber gerade davon abhalten solle, von seinem gesetzlichen Leistungsverweigerungsrecht nach § 7 Abs. 1 EFZG Gebrauch zu machen. Die Kündigungserklärungsfrist sei unzweifelhaft eingehalten. Der Ausspruch der streitgegenständlichen Kündigung sei auch nicht treuwidrig.
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Die Beklagte beantragt,
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das Urteil des Arbeitsgerichts Dortmund vom 8. Januar 2025 – 9 Ca 3671/24 – abzuändern und die Klage abzuweisen.
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Der Kläger beantragt,
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die Berufung zurückzuweisen.
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Er verteidigt unter Wiederholung und Vertiefung seines erstinstanzlichen Vorbringens das arbeitsgerichtliche Urteil. Er behauptet, er habe aus einer Notlage heraus gehandelt, getrieben von der Sorge um seine Gesundheit und der Verpflichtung, einen Arbeitsausfall ordnungsgemäß zu dokumentieren. Die Kündigung sei um mindestens einen Tag zurückdatiert worden. Ferner sei er nach dem Zugang der Kündigung für die Beklagte tätig gewesen. Er ist der Ansicht, sein Verhalten könne nicht als inhärent kündigungsrelevant eingestuft werden, da keine Täuschungsabsicht nachgewiesen worden sei. Die Vereinbarung, die Tage der Arbeitsunfähigkeit als Urlaubstage zu verbuchen, verdeutliche, dass auch die Beklagte die Situation nicht als so gravierend einschätzte, dass eine Kündigung erforderlich sei. Die Zwei-Wochen-Frist sei nicht eingehalten, da die Beklagte wegen organisatorischen Hürden bei der Einreichung der Arbeitsunfähigkeit nicht gewährleistet habe, dass eine kündigungsberechtigte Person schnellstmöglich Kenntnis über die Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung habe erlangen können. Zudem handele die Beklagte treuwidrig, wenn sie einerseits die Arbeitsunfähigkeit durch den „approved“-Vermerk mit der Einreichung akzeptiere und andererseits betrügerische Absicht zum Vorwurf mache. Angesichts dessen, dass die Beklagte aus einem weiteren Verfahren Kenntnis von online ausgestellten Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen gehabt habe, sei sie verpflichtet gewesen, seine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung zurückzuweisen. Sie habe die bei ihr tätigen Personen explizit hinweisen müssen, dass die Vorgaben zur Feststellung der Arbeitsunfähigkeit zu beachten seien.
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Wegen des weiteren Sach- und Rechtsvortrags der Parteien wird auf die gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen und die ausweislich der Sitzungsprotokolle abgegebenen Erklärungen ergänzend Bezug genommen.
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Entscheidungsgründe
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Die Berufung der Beklagten ist zulässig und begründet. Das Arbeitsverhältnis der Parteien ist durch die streitgegenständliche außerordentliche Kündigung aufgelöst worden.
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I. Die Berufung der Beklagten ist zulässig.
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Sie ist nach § 64 Abs. 1, Abs. 2 Buchst. c ArbGG statthaft, nach den §§ 519 ZPO, 64 Abs. 6 Satz 1, 66 Abs. 1 Satz 1 ArbGG am 11. Februar 2025 gegen das am 30. Januar 2025 zugestellte Urteil innerhalb der Monatsfrist form- und fristgerecht eingelegt und innerhalb der Berufungsbegründungsfrist des § 66 Abs. 1 Satz 1 ArbGG am 11. März 2025 ordnungsgemäß nach den §§ 520 Abs. 3 ZPO, 64 Abs. 6 Satz 1 ArbGG begründet worden.
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II. Die gegen die außerordentliche Kündigung der Beklagten vom 18. September 2024 gerichtete Kündigungsschutzklage des Klägers ist unbegründet. Das Arbeitsverhältnis der Parteien ist durch die außerordentliche fristlose Kündigung der Beklagten aufgelöst worden.
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1. Die Kündigung beruht auf einem wichtigen Grund iSd. § 626 Abs. 1 BGB.
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a) Nach § 626 Abs. 1 BGB kann das Arbeitsverhältnis aus wichtigem Grund ohne Einhaltung einer Kündigungsfrist gekündigt werden, wenn Tatsachen vorliegen, aufgrund derer dem Kündigenden unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls und unter Abwägung der Interessen beider Vertragsteile die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses selbst bis zum Ablauf der Kündigungsfrist nicht zugemutet werden kann. Dafür ist zunächst zu prüfen, ob der Sachverhalt ohne seine besonderen Umstände „an sich“, und damit typischerweise als wichtiger Grund geeignet ist. Alsdann bedarf es der weiteren Prüfung, ob dem Kündigenden die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses unter Berücksichtigung der konkreten Umstände des Falls und unter Abwägung der Interessen beider Vertragsteile – jedenfalls bis zum Ablauf der (fiktiven) Kündigungsfrist – zumutbar ist oder nicht (BAG 14. Dezember 2023 – 2 AZR 55/23 – Rn. 14 mwN).
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b) Das Verhalten des Klägers ist „an sich“ geeignet, einen wichtigen Grund iSd. § 626 Abs. 1 BGB zu bilden. Durch die Vorlage der Bescheinigung vom 21. August 2024 zum Nachweis seiner Arbeitsunfähigkeit suggerierte der Kläger der Beklagten bewusst wahrheitswidrig, es habe zur Feststellung der Arbeitsunfähigkeit ein Kontakt mit einem Arzt stattgefunden. Dies stellt eine Verletzung seiner arbeitsvertraglichen Rücksichtnahmepflicht (§ 241 Abs. 2 BGB) dar, die aufgrund des damit verbundenen Vertrauensbruches als „an sich“ wichtiger Grund nach § 626 Abs. 1 BGB geeignet ist. Ob der Kläger tatsächlich arbeitsunfähig war oder davon ausging, tatsächlich arbeitsunfähig zu sein, ist insoweit unerheblich (vgl. zur Einreichung einer Impfunfähigkeitsbescheinigung, die entgegen des durch sie vermittelten Eindrucks ohne ärztliche Untersuchung zustande gekommen ist BAG 14. Dezember 2023 – 2 AZR 55/23 – Rn. 16).
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aa) Die Bescheinigung erweckt für einen unbefangenen Dritten den Eindruck, es handele sich um eine ärztliche Bescheinigung, die aufgrund eines ärztlichen Kontakts zustande gekommen sei.
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(1) Die Verwendung der Begrifflichkeit „Fernuntersuchung“ spricht für eine Anamnese, die ohne gleichzeitige körperliche Präsenz von Arzt und Patient, jedoch im Wege einer Kommunikation mit einem Arzt erfolgt ist. Dem steht auch nicht entgegen, dass die Bescheinigung den Zusatz „nur mittels Fragebogen“ enthält. Dieser Zusatz weist lediglich auf die Methode der Befunderhebung hin. Er hebt den durch den Begriff „Fernuntersuchung“ erweckten Eindruck eines ärztlichen Kontakts jedoch nicht auf.
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(2) Auch das äußere Erscheinungsbild der Bescheinigung verstärkt die Annahme eines ärztlichen Kontakts. Dieses entspricht weitestgehend dem Vordruck, der vor Einführung der elektronischen Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung als Muster 1b (1.2018) als Ausfertigung zur Vorlage beim Arbeitgeber durch die Kassenärztliche Bundesvereinigung für die Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen in Papierform vorgesehen war („gelber Schein“). Dadurch wird gleichsam der Eindruck erweckt, die Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung sei ordnungsgemäß nach dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse zustande gekommen. Dieser Stand wird hinsichtlich der Feststellung einer Arbeitsunfähigkeit durch § 4 und § 5 der Richtlinie des Gemeinsamen Bundesausschusses über die Beurteilung der Arbeitsunfähigkeit und die Maßnahmen zur stufenweisen Wiedereingliederung nach § 92 Absatz 1 Satz 2 Nummer 7 SGB V (Arbeitsunfähigkeits-Richtlinie) zusammengefasst. Die Vorgaben beziehen sich auf medizinische Erkenntnisse zur sicheren Feststellbarkeit der Arbeitsunfähigkeit. Es handelt sich dabei zwar bereits von Gesetzes wegen nicht um zwingende Vorgaben, die die Arbeitsvertragsparteien und Arbeitsgerichte binden. Solche Bestimmungen enthalten aber eine Zusammenfassung allgemeiner medizinischer Erfahrungsregeln und Grundregeln zur validen Feststellung der Arbeitsunfähigkeit und bilden daher den allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse ab (vgl. BAG 28. Juni 2023 – 5 AZR 335/22 – Rn. 17 mwN). Nach § 4 Abs. 5 Satz 1 und 2 der Arbeitsunfähigkeits-Richtlinie idF. vom 7. Dezember 2023 darf die Feststellung der Arbeitsunfähigkeit nur auf Grund einer ärztlichen Untersuchung erfolgen. Diese erfolgt unmittelbar persönlich oder mittelbar persönlich im Rahmen einer Videosprechstunde oder nach telefonischer Anamnese nach Maßgabe von Absatz 5a. Eine ärztliche Untersuchung im Sinne der Arbeitsunfähigkeits-Richtlinie liegt jedoch mangels unmittelbaren oder mittelbaren persönlichem Kontakt des Klägers mit einem Arzt nicht vor.
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bb) Dem Kläger war auch bewusst, dass kein ärztlicher Kontakt stattgefunden hat, ein solcher Eindruck aber durch die vorgelegte Bescheinigung bei der Beklagten erweckt wird. Ihm war bekannt, dass entgegen des Inhalts der Bescheinigung keine ärztliche Untersuchung stattgefunden hat. Zudem wurde ihm durch die Hinweise auf der Website unmissverständlich vor Augen geführt, dass es sich um eine gegen Gebühr erworbene Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung handelt, die nicht nach den allgemeinen medizinischen Grundregeln zustande gekommen ist.
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c) Ferner hat sich der Kläger eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung erschlichen. Dieses Verhalten ist ebenfalls geeignet, einen wichtigen Grund iSd. § 626 Abs. 1 BGB darzustellen.
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aa) Das Erschleichen von Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen kann einen wichtigen Grund iSd. § 626 Abs. 1 BGB zur außerordentlichen Kündigung bilden. Dies gilt insbesondere, wenn sich der Arbeitnehmer für den Zeitraum der vorgetäuschten Arbeitsunfähigkeit Entgeltfortzahlung gewähren lässt (vgl. BAG 29. Juni 2017 – 2 AZR 597/16 – Rn. 16).
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bb) Für den Zeitraum vom 19. August bis zum 23. August 2024 ist eine Arbeitsunfähigkeit des Klägers durch die Bescheinigung vom 21. August 2024 attestiert. Der Beweiswert dieser Bescheinigung ist jedoch erschüttert.
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(1) Eine Vertragsverletzung des Arbeitnehmers als wichtigen Grund iSd. § 626 Abs. 1 BGB hat der Arbeitgeber zu beweisen. Ihm obliegt daher nicht nur der Nachweis dafür, dass der Arbeitnehmer überhaupt gefehlt hat, sondern auch dafür, dass er unentschuldigt gefehlt hat, dass also die vom Arbeitnehmer behauptete Krankheit nicht vorliegt. Legt der Arbeitnehmer ein ärztliches Attest vor, so begründet dieses in der Regel den Beweis für die Tatsache der arbeitsunfähigen Erkrankung. Ein solches Attest hat einen hohen Beweiswert, denn es ist der gesetzlich vorgesehene und wichtigste Beweis für die Tatsache der krankheitsbedingten Arbeitsunfähigkeit. Bezweifelt der Arbeitgeber die Arbeitsunfähigkeit, beruft er sich insbesondere darauf, der Arbeitnehmer habe den die Bescheinigung ausstellenden Arzt durch Simulation getäuscht oder der Arzt habe den Begriff der krankheitsbedingten Arbeitsunfähigkeit verkannt, dann muss er die Umstände, die gegen die Arbeitsunfähigkeit sprechen, näher darlegen und notfalls beweisen, um dadurch die Beweiskraft des Attestes zu erschüttern. Ist es dem Arbeitgeber allerdings gelungen, den Beweiswert der ärztlichen Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung zu erschüttern bzw. zu entkräften, so tritt hinsichtlich der Behauptungs- und Beweislast wieder derselbe Zustand ein, wie er vor Vorlage des Attestes bestand. Jedenfalls muss dann der Arbeitgeber nicht zwingend nachweisen, dass irgendeine Krankheit überhaupt nicht vorgelegen haben kann. Es ist vielmehr wiederum Sache des Arbeitnehmers, nunmehr angesichts der Umstände, die gegen eine Arbeitsunfähigkeit sprechen, weiter zu substantiieren, welche Krankheiten vorgelegen haben, welche gesundheitlichen Einschränkungen bestanden haben und welche Verhaltensmaßregeln der Arzt gegeben hat. Erst wenn der Arbeitnehmer insoweit seiner Substantiierungspflicht nachgekommen ist und ggf. die behandelnden Ärzte von ihrer Schweigepflicht entbunden hat, muss der Arbeitgeber aufgrund der ihm obliegenden Beweislast den konkreten Sachvortrag des Arbeitnehmers widerlegen. Mit der Patientenkartei und der Vernehmung des behandelnden Arztes kommen dabei regelmäßig Beweismittel in Betracht, die eine weitere Sachaufklärung versprechen. Es ist in derartigen Fällen auch stets zu prüfen, ob die Umstände, die den Beweiswert des ärztlichen Attests erschüttern, nicht als sogar so gravierend anzusehen sind, dass sie ein starkes Indiz für die Behauptung des Arbeitgebers darstellen, die Krankheit sei nur vorgetäuscht gewesen, so dass der Arbeitnehmer dieses Indiz entkräften muss (vgl. BAG 26. August 1993 – 2 AZR 154/93 – zu B I 1 c der Gründe; LAG Rheinland-Pfalz 24. Mai 2024 – 2 Sa 181/23 – zu A I 1 der Gründe; 4. Mai 2021 – 6 Sa 359/20 – zu II 1.1.2 a aa der Gründe; LAG Köln 12. Dezember 2024 – 8 Sa 409/23 – zu II 2 a der Gründe; 13. Mai 2020 – 6 Sa 663/19 – zu II 1 a der Gründe, jeweils im Rahmen einer Kündigung; vgl. zum hohen Beweiswert von Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen im Rahmen von Entgeltfortzahlungsansprüchen wegen krankheitsbedingter Arbeitsunfähigkeit bspw. BAG 28. Juni 2023 – 5 AZR 335/22 – Rn. 12).
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(2) Der Beweiswert der Bescheinigung des Klägers vom 21. August 2024 ist wegen der Nichteinhaltung der in § 4 Abs. 5 Satz 1 und 2 der Arbeitsunfähigkeits-Richtlinie idF. vom 7. Dezember 2023 niedergelegten medizinischen Standards erschüttert.
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(a) Die Nichteinhaltung der Vorgaben des § 4 und 5 der Arbeitsunfähigkeits-Richtlinie können nach der Lebenserfahrung und der Expertise des Normgebers der Arbeitsunfähigkeits-Richtlinie geeignet sein, den Beweiswert einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung im Rahmen der nach § 286 ZPO vorzunehmenden Beweiswürdigung zu erschüttern (vgl. BAG 28. Juni 2023 – 5 AZR 335/22 – Rn. 19 mit ausführlicher Begründung).
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(b) Dies ist vorliegend nach einer Gesamtbetrachtung der Umstände der Fall. Die durch die Bescheinigung dokumentierte Feststellung der Arbeitsunfähigkeit ist entgegen der Vorgaben des § 4 Abs. 5 Satz 1 und 2 der Arbeitsunfähigkeits-Richtlinie nicht im Wege einer ärztlichen Untersuchung, sondern ohne persönlichen unmittelbaren oder mittelbaren ärztlichen Kontakt erfolgt. Zudem konnte die Bescheinigung gegen Zahlung einer Gebühr nach Ausfüllen eines Fragebogens online erworben werden. Der Anbieter weist auf seiner Website unmissverständlich darauf hin, dass es sich um eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung handelt, der ein geringerer Beweiswert zukommt.
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(3) Der Kläger ist seiner angesichts des erschütterten Beweiswerts der Bescheinigung bestehenden Substantiierungslast nicht hinreichend nachgekommen. Er hat lediglich pauschal vorgetragen, welche Symptome er in dem Fragebogen auf der Website angegeben und welche Medikamente er eingenommen hat. Welche konkreten gesundheitlichen Einschränkungen an den einzelnen Tagen des behaupteten Arbeitsunfähigkeitszeitraums bestanden und wie diese sich im Einzelnen auf seine Arbeitsfähigkeit ausgewirkt haben, ist nicht ausgeführt worden.
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2. Die außerordentliche Kündigung ist auch verhältnismäßig. Der Beklagten war die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses unter Berücksichtigung der konkreten Umstände des Falls und unter Abwägung der Interessen beider Vertragsteile – jedenfalls bis zum Ablauf der Kündigungsfrist – nicht zumutbar.
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a) Die Beklagte war nicht gehalten, als milderes Mittel eine Abmahnung auszusprechen.
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aa) Ordentliche und außerordentliche Kündigungen wegen einer Vertragspflichtverletzung setzen regelmäßig eine Abmahnung voraus. Einer solchen bedarf es nach Maßgabe des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes nur dann nicht, wenn bereits ex ante erkennbar ist, dass eine Verhaltensänderung in Zukunft auch nach einer Abmahnung nicht zu erwarten steht, oder es sich um eine so schwere Pflichtverletzung handelt, dass selbst deren erstmalige Hinnahme dem Arbeitgeber nach objektiven Maßstäben unzumutbar und damit offensichtlich – auch für den Arbeitnehmer erkennbar – ausgeschlossen ist. Liegt nur eine dieser Fallgruppen vor, kann Ergebnis der Interessenabwägung nicht sein, den Kündigenden auf eine Abmahnung als milderes Mittel zu verweisen. Die zweite Fallgruppe betrifft ausschließlich das Gewicht der in Rede stehenden Vertragspflichtverletzung, die für sich schon die Basis für eine weitere Zusammenarbeit irreparabel entfallen lässt. Dieses bemisst sich gerade unabhängig von einer Wiederholungsgefahr. Die Schwere einer Pflichtverletzung kann zwar nur anhand der sie beeinflussenden Umstände des Einzelfalls beurteilt werden, diese müssen aber die Pflichtwidrigkeit selbst oder die Umstände ihrer Begehung betreffen. Dazu gehören etwa ihre Art und ihr Ausmaß, ihre Folgen, der Grad des Verschuldens des Arbeitnehmers sowie die Situation bzw. das „Klima“, in der bzw. in dem sie sich ereignete. Sonstige Umstände, die Gegenstand der weiteren Interessenabwägung sein können, wie etwa ein bislang unbelastetes Arbeitsverhältnis, haben bei der Prüfung der Schwere der Pflichtverletzung außer Betracht zu bleiben (BAG 20. Mai 2021 – 2 AZR 596/20 – Rn. 27 mwN).
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bb) Eine Abmahnung war aufgrund der Schwere des Pflichtverstoßes entbehrlich. Es handelt sich um eine so schwere Pflichtverletzung, dass selbst deren erstmalige Hinnahme der Beklagten nach objektiven Maßstäben unzumutbar und damit offensichtlich – auch für den Kläger erkennbar – ausgeschlossen war. Der Kläger hat bewusst wahrheitswidrig vorgegeben, eine Arbeitsunfähigkeit sei von einem Arzt aufgrund einer Untersuchung festgestellt worden. Bezogen auf diesen Kündigungsvorwurf ist es unerheblich, ob der Kläger aufgrund der am 17. September 2024 stattgefundenen Gespräche bereit war, nun zu einem niedergelassenen Arzt zu gehen. Der Vertrauensbruch wiegt schwer, da es sich bei den Abläufen zur Feststellung einer Arbeitsunfähigkeit um einen Bereich handelt, in den die Beklagte als Arbeitgeberin grundsätzlich keinen Einblick hat (vgl. auch LAG Berlin-Brandenburg 19. März 2024 – 7 Sa 908/23 – zu A II b cc (2) der Gründe). Soweit der Kläger vorträgt, er habe aus einer Notlage heraus gehandelt, getrieben von der Sorge um seine Gesundheit und der Verpflichtung, seinen Arbeitsausfall ordnungsgemäß zu dokumentieren, ist nicht ersichtlich, aus welchen Gründen ein unmittelbarer oder mittelbarer ärztlicher Kontakt zu einer Gesundheitsschädigung des Klägers habe führen können. Es zeigt sich hieran vielmehr, dass der Kläger mit dem Einreichen der Bescheinigung, die nicht allgemeinen medizinischen Standards entsprach, bezweckte, die Beklagte glauben zu lassen, sein Arbeitsausfall sei ordnungsgemäß dokumentiert. Infolge dieses vorsätzlichen Vertrauensbruchs hat die Beklagte Entgeltfortzahlung an den Kläger geleistet.
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b) Auch im Rahmen der weiteren Interessenabwägung ist angesichts des schweren, vorsätzlichen Pflichtverstoßes von einem überwiegenden Interesse der Beklagten auszugehen, das Arbeitsverhältnis mit dem Kläger nicht – auch nur bis zum Ablauf der Kündigungsfrist – fortzuführen. Soweit der Kläger behauptet, er sei nach dem Zeitpunkt des Zugangs der Kündigung für die Beklagte tätig geworden, hat er weder dargelegt, in welcher Art und Weise er tätig geworden ist, noch auf wessen Veranlassung dies erfolgte. Es ist auch nicht ausschlaggebend, dass das Hochladen der Bescheinigung durch die Beklagte mit dem Vermerk „approved“ bestätigt wurde. Nach dem unwidersprochenen Vortrag der Beklagten handelt es sich dabei lediglich um eine Eingangsbestätigung des Systems. Ein Verzicht auf die Ausübung von Rechten ist hiermit nicht verbunden. Die Beklagte war auch nicht gehalten, ihre Mitarbeiter über Sachverhalte anderer Kündigungsschutzverfahren im Zusammenhang mit Online-Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen in Kenntnis zu setzen.
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3. Der Kläger hat auch keinen Sachverhalt dargelegt, aus dem sich ergibt, dass die Beklagte aus einem Grund gekündigt hat, auf den sie zuvor als Kündigungsgrund verzichtet hat. Zwar kann der Arbeitgeber grundsätzlich auf das Recht zum Ausspruch einer außerordentlichen oder ordentlichen Kündigung einseitig durch entsprechende Willenserklärung verzichten (vgl. dazu bspw. BAG 26. November 2009 – 2 AZR 751/08 – Rn. 9; 13. Dezember 2007 – 6 AZR 145/07 – Rn. 22 mwN). Eine derartige Willenserklärung ist jedoch nicht in der Vereinbarung der Parteien zu sehen, die Zeit der behaupteten Arbeitsunfähigkeit als Urlaubstage zu werten. Insoweit haben die Parteien lediglich eine Regelung über Entgeltansprüche für den betreffenden Zeitraum getroffen. Soweit der Kläger in diesem Zusammenhang weitere, von der Beklagten bestrittene Äußerungen seines Vorgesetzten behauptet, ergibt sich aus diesem weiteren Vortrag des Klägers nicht, dass die Beklagte auf das Recht zum Ausspruch einer Kündigung aufgrund der Vorlage der Bescheinigung vom 21. August 2024 verzichtet hat.
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4. Die Beklagte hat die Kündigungserklärungsfrist des § 626 Abs. 2 BGB eingehalten.
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a) Gemäß § 626 Abs. 2 Satz 1 BGB kann die Kündigung aus wichtigem Grund ohne Einhaltung einer Kündigungsfrist nur innerhalb von zwei Wochen erfolgen. Die Frist beginnt mit dem Zeitpunkt, in dem der Kündigungsberechtigte von den für die Kündigung maßgebenden Tatsachen Kenntnis erlangt (§ 626 Abs. 2 Satz 2 BGB). Regelmäßig erfolgt der Fristbeginn, sobald der Kündigungsberechtigte eine zuverlässige und möglichst vollständige positive Kenntnis der für die Kündigung maßgebenden Tatsachen hat, die ihm die Entscheidung darüber ermöglicht, ob er das Arbeitsverhältnis fortsetzen will oder nicht. Uneingeschränkt gilt dies bei in der Vergangenheit liegenden, vollständig abgeschlossenen Kündigungssachverhalten, mögen diese auch – etwa als Vertrauensverlust – noch fortwirken (vgl. BAG 22. März 2018 – 8 AZR 190/17 – Rn. 48; 23. Januar 2014 – 2 AZR 582/13 – Rn. 14 mwN).
64
b) Diese Frist ist eingehalten. Am 17. September 2025 hatte das Vorstandsmitglied E als Kündigungsberechtigte hinreichende Kenntnis von den in der Vergangenheit vollständig abgeschlossenen Tatsachen, die von der Beklagten zur Darlegung des wichtigen Grundes herangezogen worden sind. Das Kündigungsschreiben ging dem Kläger am 23. September 2025 zu.
65
c) Soweit der Kläger einwendet, die Beklagte habe treuwidrig durch organisatorische Hürden verhindert, dass eine kündigungsberechtigte Person zu einem früheren Zeitpunkt positive Tatsachenkenntnis erlangt, sind – ungeachtet der Frage der rechtlichen Wertung – keine hinreichenden Tatsachen dafür erkennbar. Im Übrigen ist die Kündigungserklärungsfrist selbst dann gewahrt, wenn derjenige Zeitpunkt Berücksichtigung finden würde, zu dem die Personalabteilung der Beklagten Kenntnis erhielt, also der 13. September 2024.
66
d) Soweit der Kläger anführt, das Kündigungsschreiben sei um mindestens einen Tag zurückdatiert worden, ist dieser Umstand unerheblich. Maßgeblich ist der Zeitpunkt des Zugangs der Kündigung.
67
III. Der gegen die hilfsweise ordentliche Kündigung gerichtete Kündigungsschutzantrag ist als unechter Hilfsantrag für den Fall des Obsiegens mit dem gegen die außerordentliche Kündigung gerichteten Kündigungsschutzantrag auszulegen (vgl. bspw. BAG 22. August 2019 – 2 AZR 111/19 – Rn. 33). Mangels Bedingungseintritts ist dieser nicht zur Entscheidung angefallen.
68
IV. Die Kostenentscheidung beruht auf § 91 Abs. 1 Satz 1 ZPO iVm. § 64 Abs. 6 Satz 1 ArbGG. Gründe für die Zulassung der Revision im Sinne des § 72 Abs. 2 ArbGG sind nicht gegeben. Keine der entscheidungserheblichen Rechtsfragen hat grundsätzliche Bedeutung im Sinne des § 72 Abs. 2 Nr. 1 ArbGG. Die Rechtsfragen berühren auch nicht wegen ihrer tatsächlichen Auswirkungen die Interessen der Allgemeinheit oder eines größeren Teils der Allgemeinheit. Ferner lagen keine Gründe vor, die die Zulassung wegen einer Abweichung von der Rechtsprechung eines der in § 72 Abs. 2 Nr. 2 ArbGG angesprochenen Gerichte rechtfertigen würde.
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RECHTSMITTELBELEHRUNG
70
Gegen dieses Urteil ist ein Rechtsmittel nicht gegeben.
71
Wegen der Möglichkeit der Nichtzulassungsbeschwerde wird auf § 72a ArbGG verwiesen.
